Writings
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft
Beethovens Sonaten- und Fantasie-Welt und die Faszination des Hammerflügels
Wenn wir es – vielfach unterrichtet in den letzten Jahrzehnten – mit Beethoven-Interpretationen zu tun haben, dann erstaunt es immer wieder, wenn sich berufene Pianisten entscheiden, Sonaten und Klavierstücke des Komponisten auf „alten“ Instrumenten vorzutragen. „Alt“ insofern, als es sich um Klaviere aus der Zeit des Beethovenschen Schaffens handelt – mithin um Aufführungsgrundlagen, die den Möglichkeiten des damaligen Komponierens entsprachen. Aber nicht nur dies, denn sie zeigten den Autoren auch die Grenzen ihrer musikalischen Vorstellungen. So zeigt es sich in der Geschichte des Komponierens und des Instrumentenbaus, dass die Inventionen, ja die Träume der großen Meister auch die Weiterentwicklung der ihnen zur Verfügung, im weiteren Sinn die Vervollkommnung der gewünschten, der geforderten Instrumente in sozusagen wechselseitiger Befruchtung gefördert haben.
Makoto Ueno, der ebenso nachdenkliche wie explosiv gestaltende Beethoven-Verwalter, hat sich für die Wiedergabe zweier fast schon volkstümlicher Sonaten (op. 53 und op. 57), sowie der im wahrsten Sinne des Wortes „fantastischen“ Improvisations-Studie op. 77 für verschiedene Hammerflügel aus der Zeit des Beethovenschen Planens und Vollendens entschieden. Es handelt sich hier zum einen um den akustischen Rückblick in eine Zeit des ästhetischen Umbruchs, denn Beethovens so genannte „Waldstein“-Sonate, mehr noch die hoch erregte „Appassionata“ boten dem damaligen – freilich ausgewählten – Publikum eine Fülle von Erlebnissen, die geradezu erschütternd gewesen sein mussten. Nämlich im Unterschied zur damaligen Musikproduktion zweit- und drittrangiger Autoren, die sich mit ihren Charakterstücken, Sonatinen und Unterrichtsetüden eher Geschmack häuslichen, im besten Sinne „dilletierenden“ Musizierens verpflichtet fühlten – und damit auch in Verbindung mit ihren Verlegern mit halbwegs sicheren Einkünften rechnen konnten.
Die alten, heute zumeist in Kopien – also nach gebauten – Exemplaren spielbaren Instrumente zeigen uns, wie individuell deren Farbenpalette im Unterschied zu den heute gebräuchlichen, gewissermaßen „modernen“ Instrumenten ist. Sie verfügen zwar nicht über die Dynamik – sprich Lautstärke – eines Steinways oder eines Bösendorfers, aber ihr klangliches Innenleben, ihre Flexibilität im Umfeld der kleinen und mittleren Akzentgebungen, ihr Licht- und Schattenspiel im Bereich der feinen, ja indirekten Beleuchtungen wird dem aufmerksamen Zuhörer wichtige Eigenheiten der jeweils aufgeführten Werke übermitteln. Insofern handelt es sich bei jeder verantwortungsvollen Interpretation auf einem „alten“ Instrument nicht nur um eine konservative Variante pianistischer Nostalgie, sondern durchaus im Sinne aufführungspraktischer Dialektik um eine mutigen Akt im Sinne von Belebung aktueller Erfahrung des musikalischen Wesentlichen.
Die „Waldstein-Sonate“ in C-Dur op. 53 entstand in den Jahren 1803 und 1804. Graf Ferdinand von Waldstein war ein Musikfreund von hohen Kenntnissen, aber nicht nur dies, denn auch als Komponist machte er sich in den Kreisen der interessierten Aristokratie einen Namen. Musikwissenschaftler gehen immerhin davon aus, dass einige Partien von Beethovens „Ritterballett“ (1790/91) auf Ideen des Grafen zurückgehen. Man fühlt sich ihr an den kompositorischen Ehrgeiz ungarischer Adeliger erinnert, deren melodische Erfindungen – zunächst von Zigeuner-Kapellen improvisiert – Eingang in die Werke Liszts und Brahms gefunden haben. Waldstein spielte im Leben Beethovens als Förderer eine wichtige Rolle, vermutlich ist es ihm zu verdanken, dass Beethoven in Wien sozusagen Fuß fassen konnte.
Im Verlauf der Sonate op. 53 überwiegt das virtuose Prinzip, freilich in Verbindung mit einem bis dahin wohl unerhörten pianistischen Glanz. Polyphonie, wie sie in den späten Sonaten Richtungs weisend sein sollte, wird hier nur angedeutet. Es dominiert in den beiden Ecksätzen eine muntere, ja überstürzende, den Pianisten herausfordernde Homophonie. Die technischen Herausforderungen knüpfen an durchaus bekannte Problemstellungen virtuoser Kompositionen von Scarlatti, Bach, Haydn oder auch Mozart an: Akkordrepetitionen, Erkundung extremer Lagen, Tremolos und das Übergreifen der Hände, waghalsige Oktavpassagen und den Einsatz des Pedals als gleichsam malerisch-klangliches Zusatzinstrument. Das Neuartige dieser Sonate hat der Beethoven-Kenner Jürgen Uhde „im Zusammenschließen solcher Momente, in der neuartigen ‚chemischen’ Verbindung des Klanges“ gesehen. Und weiter: „Mehr als je zuvor nähert sich in manchen Stellen der Klang dem Geräuschhaften, so in den tief gelegenen Hauptthema-Doppelgriffen der linken Hand, vor allem aber am Beginn der Durchführung, oder in den volleren Griffen links (Takt 62 ff; nach Takt 249)“. Geräuschhaftes auch am Ende der Durchführung, wenn die linke Hand mit einer stereotypen Figur ein Grollen, ein düsteres Wirbeln durchaus in Nähe eines Paukenwirbels erzeugt.
In Frankreich wurde die C-Dur-Sonate op. 53 von einem ihrer frühen Herausgeber mit dem Titel „L’aurore“ („Die Morgenröte“) propagiert. Nicht wenige der Beethoven-Sonaten sind mit solchen Titeln dem Publikum angepriesen worden – man denke nur an die „Mondschein-Sonate“, die ihre unvergängliche Namensgebung dem Kritiker Rellstab verdankt – und von den Verlegern und Konzertveranstaltern bis zum heutigen gerne übernommen wird. Was die „Morgenröte“ anbelangt, so fühlt man sich an Haydns „Jahreszeiten“ erinnert. Bei Beethoven handelt es sich – wenn man die Agitation der Eröffnung deuten darf – als eine Art von Aufbruch ins Unbekannte, um ein Drängen und Fordern, ohne Hinweis zunächst, was da im Melodischen und Figurativen kommen würde. Diese Unruhe, diese schöpferische Abenteuerlust des ersten Satzes wird im zweiten Satz – „Introduzione. Molto Adagio“ – stark gebremst, als wollte Beethoven dem weltlichen, aufgeregten Tastenspiel ein meditatives Programm entgegensetzen. Ursprünglich hatte er als zweiten Satz das heute bekannte und beliebte „Andante favori“ geplant, diesen aber wohl als zu ausführlich, als dramaturgisch unpassend verworfen. Mit seinen zögernden, sinnierenden, eher defensiven melodischen, genauer noch: mit seinen rezitativischen Formalien gemahnt dieses „Vorspiel“ an den langsamen Satz aus Schuberts B-Dur-Sonate (D 960). Es ist die zarte, zwischen Glück und Schmerz verhandelnde Vorbereitung eines Finalsatzes von höchster Brillanz und hellster Beleuchtung, was das Thema und seine virtuosen Variationen anbelangt. Vielleicht hätte man diesen luftigen, turbulenten Satz als „Morgenröte“ bezeichnen sollen, denn kaum je in seinem.
Gesamtwerk hat sich Beethoven so zweifellos auf der Sonnenseite des pianistischen Lebens bewegt.
Wer sich mit all den 32 Beethoven-Sonaten auseinandersetzt, der wird unweigerlich eine gewissen Beziehung zwischen den beiden f-Moll-Sonaten op. 2,1 und der „Appassionata“ op. 57 bemerken. Das frühe Werk und das Werk der „mittleren Reife“ sind gekennzeichnet durch drängende Motorik und Themen des Auftriebs, bzw. sinkender, im Extremfall stürzender Bewegung. Mit der Sonate op. 57 haben wir es mit einer dem Klavier überantworteten Tragödie“ zu tun. Der Schluss des ersten Satzes endet in Verwirrung, ja Verzweiflung, der zweite Satz beschreibt in seinen Themen-Metamorphosen die Sehnsucht nach Frieden, nach einer besseren, friedlichen Welt, während die brutalen Akkordschläge am Beginn des Finalsatzes unerbittlich in eine feindliche, unbarmherzige Welt zurückführen. Die Motorik der rasselnden Sechzehntel hat etwas Penetrantes, sie haben etwas Bohrendes an sich, als wollte Beethoven wieder und wieder auf jene Zustände hinweisen, die ihm im gesellschaftlichen Leben zu Kritik und Rebellion herausforderten. Das Werk endet im Taumel der Akkordrepetitionen und endlich im Strudel herabstürzender Dreiklangszerlegungen – fern allen jeglichen Glaubens an eine schöne Welt, vielmehr als Hymnus an alles Zerstörerische!
Ludwig van Beethoven war den Zeugnissen seiner Zeitgenossen nach ein begnadeter Improvisator. Seine Fantasie in H-Dur op. 77 – beginnend in g-Moll! – ist ein aufgeschriebenes Dokument solcher prompten Erfindungsgabe. Das Stück durchläuft eine Vielzahl von emotionalen Zuständen, entfernt sich in kühnen Modulationen von der am Anfang herabstürzenden Tonskala, wendet sich zum lieblichen Guten, um im nächsten Moment auch Schauerliches einzublenden. Es ist – wenn man will – eine Geisterbahn, auf der sich der Interpret und der Hörer befinden. Beethoven hatte das Stück 1810 seinem Verleger Breitkopf & Härtel mit den Worten angeboten: „Hier von neuen Werken: eine Phantasie für’s Klavier“. Es handelt sich hier nicht nur um ein neues, sondern auch um ein neuartiges Werk mit unzähligen kühnen Formulierungen, mit Rückmeldungen früherer Kompositionen und Vorausahnungen bis hin zur c-Moll-Sonate op. 111. „Science fiction“ für Klavier – ein musikantischer Ausflug in die Vergangenheit und zugleich eine Zeitreise in die Zukunft der Beethovenschen Gegenwart.